Zwischen Kontrolle und Kollaboration: Warum Datensouveränität zur neuen Währung der digitalen Wirtschaft wird
In einer Welt, in der Daten zur wertvollsten Währung geworden sind, gerät die Frage immer stärker in den Fokus: Wem gehören eigentlich unsere Daten — und wer entscheidet, was mit ihnen geschieht? Das 2024 erschienene Paper „Data Sovereignty in Information Systems“ wirft einen präzisen Blick auf diesen zentralen Konflikt der digitalen Ära. Es zeichnet nicht nur nach, warum Datensouveränität keine bloße Worthülse ist — sondern ein entscheidender Baustein für Vertrauen, Innovation und wirtschaftliche Zusammenarbeit.

Die Daten-Flut als strategisches Asset
Daten sind längst nicht mehr bloß Nebenprodukt digitaler Prozesse — sie sind strategische Assets. Wie die Autoren betonen, bilden Daten und ihre Nutzung die Grundlage aller Information Systems (IS). Mit der exponentiell wachsenden Datenmenge steigt auch ihre Bedeutung für gesellschaftlichen Wohlstand und wirtschaftlichen Wettbewerb.
Doch während das Potenzial riesig ist — für bessere Analysen, datengetriebene Innovationen, gesellschaftlichen Fortschritt — wachsen auch die Sorgen: Wer kontrolliert den Datenfluss? Wer entscheidet, wie Daten weitergegeben, genutzt, ausgewertet werden? Für Individuen, Unternehmen oder Institutionen bedeutet das: Verlust nicht nur der Kontrolle, sondern möglicher Wettbewerbs- oder Privatsphäre-Nachteile.
Hier setzt der Begriff der Datensouveränität an — nicht als technisches Buzzword, sondern als Anspruch auf Selbstbestimmung über das eigene Datenportfolio.
Was Datensouveränität wirklich heißt: ein neues Modell
Das Paper geht dabei einen deutlichen Schritt weiter als frühere Ansätze. Anstatt Datensouveränität nur als juristischen oder rechtlichen Begriff zu fassen, definiert es sie als umfassendes Konzept innerhalb der IS-Forschung — auf Basis einer breit angelegten Literatur- und Praxisstudie.
Im Kern schlägt das Paper ein konzeptuelles Modell vor, das sieben zentrale Aspekte umfasst — mit dem Ziel, Daten in ihrer ganzen Lebensspanne kontrollierbar zu machen: von der Erstellung über Speicherung, Nutzung, Teilen und Archivierung bis hin zur Löschung.
„Data asset“: Einmal erzeugt, bleibt das Datum ein „Asset“ — vergleichbar mit einer Ware oder einem Kapitalwert — das Schutz und Kontrolle verdient.
Datenlebenszyklus & Wertschöpfungskette: So wird sichergestellt, dass Kontrolle nicht punktuell, sondern über den gesamten Prozess hinweg besteht — von der Erzeugung bis zur Vernichtung des Datensatzes.
Vertragliche und technische Rahmenbedingungen: Zugang, Nutzung, Rechte, Pflichten — all das wird durch klare Mechanismen geregelt, um Missbrauch oder Machtungleichheiten zu verhindern.
Mit diesem Modell liefert das Paper erstmals eine gemeinsame Grundlage — für Wissenschaft und Praxis — um darüber zu sprechen, wie „Datensouveränität“ konkret ausgestaltet und umgesetzt werden kann.
Warum das nicht nur für Datenschutz-Fanatiker relevant ist
Man könnte meinen: „Datensouveränität“ betrifft nur Firmen oder Datenschützer. Doch der Reiz liegt gerade in der Balance zwischen Offenheit und Kontrolle — ein Gleichgewicht, das für Unternehmen, Organisationen und Gesellschaft gleichermaßen entscheidend ist.
Vertrauensbildung & Kooperation: Wenn Daten kontrolliert geteilt werden können, sinkt der Widerstand gegen Datenaustausch — z. B. in Lieferketten oder zwischen Partnerfirmen. Ein Beispiel im Paper: ein Automobilzulieferer-Netzwerk, das Daten teilt — unter Bedingungen, die allen Beteiligten Kontrolle und Schutz garantieren.
Kostenteilung & gemeinsame Innovation: Gerade in Branchen, in denen einzelne Akteure nicht alle Daten generieren könnten — z. B. Sensordaten aus mehreren Firmen — ermöglicht Datensouveränität kollaborative Projekte. So lassen sich gemeinsam Lösungen entwickeln, ohne dass einer den Überblick oder die Macht über alle Daten erhält.
Regulatorische und ethische Absicherung: In Zeiten von DSGVO, europäischen Datenräumen und globalen Datenschutzdebatten sichert Datensouveränität Transparenz, Kontrolle und Rechtsklarheit — nicht nur für Firmen, sondern für jede Person und Organisation, die Daten besitzt oder nutzt.
Kurz: Datensouveränität kann helfen, eine Balance zu finden zwischen dem Wunsch nach Innovation und dem Bedarf nach Kontrolle — eine Balance, die nachhaltige Wertschöpfung und Vertrauen stiftet.
Warum das bisher kaum möglich war — und was sich ändern muss
Bislang war Datensouveränität oft ein diffus gehaltener Begriff — je nach Kontext unterschiedlich interpretiert: als rechtliche Frage, als technisches Problem, als moralisches Ideal.
Das hat konkrete Folgen: Unternehmen, Behörden und Organisationen wussten selten, worauf sie sich festlegen sollten. Mangelnde Definition und fehlende Standards führten zu Unsicherheit — und verhinderten, dass Daten kollaborativ und gleichzeitig sicher genutzt wurden. Das Paper identifiziert genau dieses Problem und liefert mit seinem Modell die Grundlage für eine gemeinsame Sprache und Gestaltung.
Doch das allein reicht nicht. Die Autoren weisen darauf hin, dass praktische Implementierungen — also Software-Architekturen, Datenräume (z. B. sogenannter Data Spaces), Governance-Modelle — notwendig sind, um Datensouveränität lebendig werden zu lassen. Gerade in komplexen Umgebungen mit vielen Beteiligten (Industrie, Unternehmen, Institutionen) sind diese technische und organisatorische Arbeit entscheidend.
Darüber hinaus bleibt auch der Kosten- und Governance-Aspekt oft unbeantwortet: Wer bezahlt Infrastruktur? Wer regelt Zugriffsrechte oder Compliance? Das Paper sieht hier weiteren Forschungsbedarf und lädt dazu ein, diese Fragen in der Praxis aufzugreifen.
Ein neuer Weg für unsere digitale Zukunft
Wenn wir eines aus der zunehmenden Debatte um Datenschutz, Big Data und künstliche Intelligenz lernen — dann, dass Daten nicht einfach „unendliche Ressource“ sind. Sie sind wertvoll, sensibel und brauchen Schutz und Kontrolle. Das Konzept der Datensouveränität, wie es das Paper entwickelt, kann eine Blaupause sein für eine neue Datenökonomie — eine, in der Vertrauen, Transparenz und Kooperation wichtiger sind als Machtkonzentration.
Für Unternehmen bietet sich darin ein entscheidender Mehrwert: gemeinsame Innovation ohne Kontrolle abzugeben. Für Gesellschaften eröffnet es einen Weg, neue Formen der Zusammenarbeit zu ermöglichen — etwa datengetriebene Geschäftsmodelle, Umwelt- und Nachhaltigkeitsprojekte, Forschungspartnerschaften.
Doch dafür braucht es mehr als gute Absichten. Es braucht: technische Standards, rechtliche Rahmen, klare Governance — und den Willen, Daten nicht als Monopol, sondern als gemeinsames Asset zu verstehen.
Das 2024 erschienene Paper „Data Sovereignty in Information Systems“ liefert hierfür nicht die endgültige Lösung — aber einen soliden, theoretisch fundierten und praktisch anschlussfähigen Ansatz. Eine Einladung, die digitale Datenökonomie neu zu denken.
Quellen
Data Sovereignty in Information Systems — von Franziska von Scherenberg, Malte Hellmeier & Boris Otto.
Journal: Electronic Markets, 2024
DOI: 10.1007/s12525-024-00693-4
Online verfügbar z.B. via Springer (Link) oder über das frei zugängliche PDF auf EconStor (Open-Access Repository)
Weiterführende Quellen
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